Geschichten und Gefühle unserer Tierärztin im Arbeitsalltag
Es ist Samstagvormittag. Die Sprechstunde ist fast geschafft. Mein letzter Patient des Tages, so glaube ich, ist ein älterer Kater, der schon jahrelang an einem chronischen Nierenversagen leidet und mittlerweile bis auf Haut und Knochen abgemagert ist. Ich muss ihn erlösen. Emotional bin ich noch bei der trauernden Katzenbesitzerin, da ruft mich eine unbekannte Kundin an „ob ich der tierärztliche Notdienst wäre“. Ich verneine, denn das bin ich zwar manchmal, aber nicht heute. Ich frage aber nach, worum es denn geht. Es stellt sich heraus, dass der Grund des Anrufs eine ca. 16-jährige Katze ist, die schon länger nicht mehr gesund sei. „Nicht noch ein Tier einschläfern heute“, stöhne ich innerlich. Die Anruferin spricht weiter. Neulich wäre die Katze umgekippt und sie würde auch nichts mehr fressen. Ob ich auch Hausbesuche machen würde… eigentlich wäre es aber gar nicht ihre Katze … sie würde stellvertretend für einen befreundeten Nachbarn aus einem Wohnheim für „betreutes Wohnen“ anrufen. Der Tierbesitzer könne nicht mehr zum Tierarzt gehen. Begeistert bin ich nicht. Ich habe eine anstrengende Woche hinter mir und möchte endlich Feierabend haben. Doch ich kann nicht nein sagen. Mein Mitgefühl für Besitzer und Katze überwiegen. Ich weise auf die Notfallpauschale und die erhöhten Gebühren am Wochenende außerhalb der Sprechstunden hin. Sie hätten kein Geld da, sagt sie, signalisieren mir aber, dass sie in der nächsten Woche die Gebühren überweisen wollen. Das lehne ich mittlerweile grundsätzlich ab. Zu oft habe ich dann dem Geld hinterherrennen müssen oder gar nichts bekommen. Meine Praxismanagerin wäre stolz auf mich gewesen, dass ich mich diesmal auf eine spätere Überweisung nicht einlasse. Meine feste, aber freundliche Haltung überzeugen die Anruferin und den Tierbesitzer, den ich im Hintergrund mit ihr diskutieren höre. Die Zahlung scheint sich letzten Endes doch organisieren zu lassen.
Ich komme in einer schäbigen, für mich frustrierenden Wohngegend an. Ich kenne den Wohnkomplex des betreuten Wohnens von früher. Er liegt unweit von unserer Praxis. Hin und wieder werde ich dorthin zu Hausbesuchen gerufen, bei denen es sich meistens um Einschläferungen handelt. Zu lange mit der Behandlung gewartet, kein Geld dafür übrig. Immer traurig irgendwie. Das Gebäude hat eindeutig schon mal bessere Zeiten gesehen. Es wirkt heruntergekommen und verwahrlost. Dabei scheint sogar noch die Sonne. Vor dem Haus wird ein Auto repariert, im Treppeneingang liegt eine Kiste mit Altpapier, daneben steht ein Rollator und weiter hinten im Innenhof ist ein Rollstuhl abgestellt. Ich klingele bei der engagierten Nachbarin und nehme mit ihr den Fahrstuhl zu der Wohnung der kranken Katze.
Mausi sitzt apathisch auf dem Fußboden in der engen Wohnung. Kein Platz ist unbesetzt und auf dem einzigen freien Stuhl liegen durcheinander aufgehäufte Kleidungsstücke, daneben ein zerschlissenes Handtuch, das offenbar der Katze gehört. Davor steht mittig im Raum die Katzentoilette. Vor der Untersuchung der Katze werde ich gewarnt. Sie sei mittlerweile aggressiv und „hätte ihn letztens gebissen“ sagt der ärmlich in Jogginghose gekleidete ältere Herr, „nun müsse er regelmäßig zum Verbandswechsel“, aber der Pflegedienst, der ihn dafür holen und bringen müsse, würde das ja auch nicht umsonst machen. Dabei macht er diese typische Handbewegung mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger, die signalisiert, dass dieser Dienst für ihn viel zu teuer sei. Ich gucke mich heimlich in der Wohnung um. Neben Toaster, Kaffeemaschine und diversen Küchengeräten und Computer ist fast jede freie Fläche vollgestellt mit irgendetwas. Ungewöhnlich für eine solche Wohnung ist das Wandregal, das kleine, sorgfältig beschriftete Ausziehschubladen besitzt, die offenbar mit Schrauben, Dübeln, Sicherungen und weiteren Utensilien für Reparaturen gefüllt ist. Der Mann in Jogginghose muss in seinem früheren Leben mal irgendwas mit Elektrik oder Handwerk zu tun gehabt haben, bevor er verarmt und vereinsamt in diesem Wohnblock gelandet ist. Immerhin stinkt es nicht nach Rauch und auch nicht nach Urin. Mir wird sogar ein kleiner Tisch für die Untersuchung der Katze freigeräumt und das Katzenhandtuch dort hinauf platziert. Obwohl ich meine bissfesten Handschuhe in der Praxis vergessen habe und mehrfach gewarnt wurde, wie bissig Mausi wäre, überwinde ich mich und setze die betagte Patientin auf den Tisch.
Offenbar ist Mausi zu krank, um sich zu wehren. Ihr Fell ist erstaunlich gepflegt und längst nicht so struppig wie bei dem nierenkranken Kater von zuvor. Sie ist zwar dünn, aber nicht zum Skelett abgemagert. Laut Besitzer hat sie Hautprobleme. Mir fallen die geröteten Dekubitus Stellen an den Hinterläufen auf. Die ihr verbliebenen Zähne sind von massenhaft Zahnstein überzogen, die Schleimhäute blass und laut Besitzer hätte sie des Öfteren Durchfall, den er kaum von den Teppichen entfernen könne. Zudem fräße sie sehr schlecht und bekäme nur noch das Beste. Sogar Schabefleisch, was sie kaum anrühren würde. Kein Zweifel, die Katze ist sehr krank. Aber totsterbenskrank? Ich zögere vor dem Schritt, die Katze endgültig zu erlösen und biete an, die Katze in meine Praxis mitzunehmen, um weitere Diagnostik, wie beispielsweise Blutuntersuchungen oder Bildgebung durchzuführen. Doch der Tierbesitzer schüttelt den Kopf. Selbst wenn sich herausstellte, dass eine behandelbare Krankheit vorläge, hätte er weder finanzielle Kapazitäten noch die Möglichkeit, regelmäßige Tierarztbesuche durchzuführen. Ich finde das wieder einmal so ungerecht: hätte die Katze einen anderen Besitzer, würde sie ggf. mit allen Möglichkeiten untersucht und behandelt werden können. Es könnte ja „nur“ eine Schilddrüsenüberfunktion vorliegen. Diese wäre als Ursache für die plötzliche Aggressivität, die Gewichtsabnahme und die Durchfälle gar nicht so unwahrscheinlich und in der Regel gut einzustellen. Dann müsste sich der Tierbesitzer, der durchaus sehr an seiner Katze zu hängen scheint, nicht für das Einschläfern entscheiden. Ich stelle mir vor, wie sein Alltag in Zukunft ohne das Tier verlaufen wird. Noch trostloser und deprimierender wahrscheinlich.
Dennoch: Die Entscheidung fällt gegen eine Behandlung und ich schläfere die Katze ein. Immerhin geht es sehr friedlich und schnell. Ihr Leiden hat ein Ende. Mich quält der Gedanke, ob ich ihr und dem einsamen alten Mann noch hätte helfen können. Das Leben ist echt ungerecht, finde ich. Ich habe ein schlechtes Gewissen und kann das System doch nicht ändern. Altersarmut ist ein echtes Problem in unserer Gesellschaft. Ich werde anschließend mit Bargeld bezahlt. Ich entnehme der Unterhaltung, dass das Geld von verschiedenen Leuten aus dem Heim zusammengekratzt worden ist. Die Kosten für die Kremierung werden gespart. Das Tier soll im Garten irgendeines Neffen vergraben werden. Ich frage lieber nicht weiter nach und verlasse eilig das Heim, froh, dieser trostlosen Gegend zu entkommen. Ich fahre nach Hause, schicke die quittierte Rechnung noch ab und mache Feierabend. Die Gedanken lassen mich aber lange nicht los.
04.03.2025